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Wie sicher sind CE-zertifizierte Medizin-Apps?

Geschrieben von ursula.kramer am Montag, 22. Januar 2018 - 12:01

Software, und dazu gehören z. B. auch Gesundheits-Apps, die Daten erfassen, diese mit Algorithmen verarbeiten und als Output einen Messwert oder eine Handlungsempfehlung oder gar Diagnose ausgeben, gelten als Medizinprodukte, wenn der Anbieter sie zur Verhinderung, Erkennung oder die Therapie von Krankheiten vermarktet. Sie werden mit einer sogenannten „primären medizinischen Zweckbestimmung“ in Verkehr gebracht und durchlaufen hierzulande je nach Risikoklasse ein mehr oder weniger aufwändiges EU-Konformitätsverfahren (Anhang IX der Richtlinie 93/42/EWG) und sind CE-kennzeichnungspflichtig (1). Dieses Verfahren ist mit vielen Prüfungen verknüpft, dabei steht die Software, deren Qualitätssicherung und Gebrauchstauglichkeit etc. im Fokus. Was die CE-Kennzeichnung nicht abdeckt, ist die Nutzenevaluation, d. h. die Erfassung des sog. Netto-Nutzens, d. h. des Nutzens für den Anwender unter Berücksichtigung der Risiken.

Wie viel Sicherheit geht von einer CE-Kennzeichnung aus?

Ein aktuelles Beispiel zeigt die Herausforderungen (2): Eine App, die damit wirbt, die einzig zertifizierte Verhütungs-App auf dem Markt zu sein, nutzt die Temperaturmethode zur Unterstützung der natürlichen Familienplanung. Sie wird als CE-gekennzeichnetes Medizinprodukt der Klasse IIb vermarktet. Die benannte Stelle, die die Konformitätsprüfung durchgeführt hat, ist der TÜV Süd. In Richtung der Anwenderinnen wirbt die App damit, wissenschaftlich geprüft und zertifiziert zu sein: „Natural Cycles basiert auf klinischer Forschung und wurde als Medizinprodukt innerhalb Europas für Zwecke der Verhütung zertifiziert. Die benutzerfreundliche mobile App sei eine wirksame Verhütungsmethode. Natural Cycles sei als Verhütungsmittel zertifiziert und zeige „einen Eisprungkalender und … die fruchtbaren Tage genau an“. Die App soll dank eines selbstentwickelten Algorithmus die fruchtbaren Tage mit 93 Prozent Genauigkeit bestimmen. In Werbeabbildungen auf der Website des Unternehmens wird die App auf einer Stufe mit der Pille dargestellt (3). Auch wenn der sog. Pearl-Index der „Verhütungspille“ höher ist (4). Mit der Pille kommt es bei 100 Frauen insgesamt zu 0,1 bis 0,9 ungewollten Schwangerschaften, beim typischen Nutzungsverhalten der App-Anwenderinnen sind es im Vergleich dazu 7 (5).
Das könnte dem Hersteller jetzt möglicherweise zum Verhängnis werden: Ein schwedisches Krankenhaus meldete die App an die Aufsichtsbehörde MPA (Medical Product Agency). Von 668 Frauen, die im Zeitraum von September bis Dezember 2017 ungewollt schwanger wurden und das Krankenhaus zum Schwangerschaftsabbruch aufgesucht haben, gaben 37 an, die App „Natural Cycles“ als Verhütungsmittel genutzt zu haben (2). Wurden die Frauen nicht ausreichend aufgeklärt, wie sie die App richtig anwenden sollen?

Umfassend aufklären -  Fehlanwendungen vermeiden

Der Anbieter informiert innerhalb der App und auf der Website über die sachgemäße Anwendung der App. Verschiedene Warnhinweise erklären, in welchen Fällen zusätzliche Verhütungsmaßnahmen notwendig sind und bei welchen Zyklusanomalitäten die App keine valide Vorhersage über die fruchtbaren Tage machen kann (6). Hat der Anbieter damit ausreichend aufgeklärt? Müsste ein deutlicherer Warnhinweis auch in den Bewerbungstexten im Store und auf der Website des Herstellers aufgenommen werden? Zu welchem Urteil die schwedische Aufsichtsbehörde kommen wird und welche Auswirkung dies für andere Gesundheits- und Medizin-Apps haben wird, bleibt abzuwarten.

CE-Kennzeichnung schützt nicht vor Fehlanwendung

Das aktuelle Beispiel der Verhütungs-App könnte ein Hinweis darauf sein, dass trotz korrekter Medizinproduktedeklaration und trotz entsprechender Haftungshinweise die Fehlanwendung bzw. -einschätzung der Sicherheit einer App durch den Nutzer offensichtlich nicht verhindert werden kann. Schlechte Adhärenz ist ein Phänomen, das auch digitale Interventionen betrifft. Auch eine App kann z. B. unsachgemäß angewendet werden, die Messungen mit der App können fehlerhaft oder unvollständig durchgeführt werden. Es ist davon auszugehen, dass Adhärenzprobleme mit zunehmender Verbreitung von Gesundheits-Apps stärker zu Tage treten werden. Vielleicht müssen wir über eine Art „Beipackzettel“ für Apps nachdenken? Auf diese Weise könnten Anbieter dazu verpflichtet werden, in einem gesetzlich vorgeschriebenen Format patientenverständlich über Risiken aufzuklären und die Grenzen einer App deutlich aufzuzeigen.

CE-Kennzeichnung heißt nicht per se fehlerfreies Produkt

Ein anderes, aktuelles Beispiel verdeutlicht, dass die CE-Kennzeichnung als Medizinprodukt kein Garant dafür sein muss, dass eine App fehlerfrei arbeitet. So informiert jüngst der Anbieter einer beliebten Diabetes-App (mySugr) seine Nutzer per Mail darüber, dass ein sog. Bug (Fehler) im Bolusrechner der App zur Falschberechnung der Insulinmenge führen kann. Der Anbieter erklärt „Als Medizinprodukt-Hersteller haben wir strenge, mehrstufige Entwicklungs- und Testing-Prozesse, die Fehler dieser Art verhindern sollen. Der Fehler hat sich trotzdem eingeschlichen.“ (Mail vom 19.01.2018). Betroffen sind die Android-Apps bis Version 3.42.1, mit einem Update soll das Problem behoben sein.

Post-Market Surveillance – Instrument zum Schutz von Patienten

Das Medizinproduktegesetz sieht als Instrument zur Identifizierung von Produktfehlern oder Sicherheitsproblemen, die trotz sorgfältiger Prüfung vor dem Inverkehrbringern einer App nicht entdeckt worden sind, eine Marktüberwachung vor, die sog. Post-Market Surveillance. Definition: „The active, systematic, scientifically valid collection, analysis, and interpretation of data or other information about a marketed device.“ Auf diesem Weg sollen notwendige Korrektur- und Vorbeugemaßnahmen eingeleitet werden, um die Sicherheit der Anwender zu gewährleisten. Auch Maßnahmen, wie Rückrufe, gehören dazu. Je breiter Gesundheits-Apps angewendet werden, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Produkt- und Sicherheitsprobleme identifiziert werden können. Die beschriebene Diabetes-App hat nach Angaben ihres Herstellers mehr als eine Million Nutzer weltweit (7).

FAZIT: Gesundheits-Apps – die von Nutzern mehrheitlich auf eigene Faust ohne Beratung durch einen Arzt oder Apotheker – ausgewählt und genutzt werden (8), stellen neue Anforderungen an die Patientensicherheit.

  • Ist es sinnvoll für Apps, die als Medizinprodukte deklariert sind, auch eine Gebrauchsinformation (Beipackzettel) vorzusehen, die darüber aufklärt, wie die App sachgemäß angewendet werden soll, was über ihren Nutzen und ihre Sicherheit bekannt ist und mit welchen Risiken die Anwendung der App verbunden ist?
  • Ist es darüber hinaus hilfreich, wenn der Anbieter der App – patientenverständlich - offenlegen müsste, welche Aspekte im Rahmen der Konformitätsprüfung getestet worden sind, und welche nicht? Dann würden Anwender verstehen, was es heißt, wenn eine Verhütungs-App zertifiziert ist.
    Im Falle der Verhütungs-App verlinkt der Anbieter auf seiner Website auf die verschiedenen Prüfzertifikate so z. B. zur Konformitätserklärung der App zur ISO- und CE-Zertifizierung des Herstellers mit den Standards, die dabei zur Anwendung gekommen sind. Der App-Nutzer wird mit diesen Abkürzungen und Begrifflichkeiten vermutlich wenig anfangen können, würden diese für regulatorische Laien übersetzt, dann vielleicht schon.

Quellen:

  1. Orientierungshilfe Medical Apps. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Oktober 2015 (aktualisierter Link 05.10.2022 - ursprünglicher Link nicht mehr erreichbar)
  2. 37 ungewollte Schwangerschaften. Kritik an Verhütungs-App. Jan 2018. Futurezone.at 
  3. Website Natural Cycles. https://www.naturalcycles.com/de/contraception, 22.01.2017
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Pearl-Index.
  5. Scherwitzl B et al. Contraception 96 (2017) 420-425. Perfect-use and typical-use Pearl Index of a contraceptive mobile app
  6. Website Natural Cycles: Instructions 22.01.2017. (Link inaktiviert aufgrund von nicht Erreichbarkeit, geprüft 05.10.2022)
  7. Website mysugr: 1 Million User – monstermäßig lieben Dank! 1 Million Nutzer
  8. GAPP2-Marktstudie.Gesundheits-Apps: Qualität, Nutzung, Zukunftspotentiale. Juli 2017 
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HealthOn - Experten in Sachen Digital Health

Dr. Ursula Kramer - Die Ap(p)othekerin bloggt auf HealthOn

DiGA-Expertin, Autorin, Beraterin

Die Vision eines gerechten, patientenorientierten Gesundheitssystems treibt die Ap(p)othekerin Dr. Ursula Kramer an. Digitalisierung sieht sie als Möglichkeit, diesem Ziel näher zu kommen. Seit 2011 testet sie Qualität, Sicherheit und Anwenderfreundlichkeit von Gesundheits-Apps, Medizin-Apps und Apps auf Rezept (DiGA). Sie will Transparenz schaffen und digitale Gesundheitskompetenz fördern. Sie teilt die Erfahrung aus der Analyse vieler tausender Gesundheits-Apps in der Beratung von Unternehmen, sie schreibt darüber im Blog auf HealthOn, hält Vorträge und erstellt wissenschaftliche Publikationen. Mehr zur Ap(p)othekerin Dr. Ursula Kramer...